Before Sunrise

Filmkritik

Geschrieben am 21.10.2020 von Kilian Atzenhofer

“I like to feel his eyes on me when I look away“

Ist der Liebesfilm das schwierigste Filmgenre? Seit ich „Before Sunrise“ gesehen habe, denke ich jedenfalls ernsthaft darüber nach. Jedes Genre hat seine eigenen Tricks, um mit den Nerven und Emotionen der Zuschauer zu spielen. Aber meiner Meinung nach schlagen bei keinem Genre diese Tricks so oft fehl wie beim Liebesfilm. Entweder ist die Chemie der Darsteller nicht vorhanden oder der Film verliert sich selbst in Klischees oder Weinerlichkeit. Wenn dann ein Film die ideale Gradwanderung meistert und es tatsächlich schafft, wahre Intimität ohne Effekthascherei auf die Leinwand zu projizieren, dann weiß man, dass man etwas ganz Besonderes vor sich hat.

Der einzige andere „pure“ Liebesfilm, dem ich bisher eine Wertung von 9/10 Punkten gegeben habe, war „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Während sich dieser im künstlerisch-ästhetischen Bereich in fantastische Ausmaße entfaltet, begrenzt sich „Before Sunrise“ auf den Kern des Verliebens.

So folgen wir dem Amerikaner Jesse und der Französin Celine einen Tag und eine Nacht durch das Wien der 1995er Jahre, nachdem sie sich in einem Zug kennengelernt haben und spontan entschieden, die Stunden bis zum Sonnenaufgang gemeinsam durch die Stadt zu wandern.

So einfach die Handlung auch erklärt ist, muss man doch sagen, dass „Before Sunrise“ kein grobstrukturierter, vor sich hinplätschelnder Film ist. Nein hier wurde Feinstarbeit geleistet. Das lässt sich schon an dem Moment festmachen, in dem Jesse Celine das erste Mal anspricht. Als Zuschauer spürt man förmlich sein eigenes Herz, genau wie das, des Protagonisten, ein wenig schneller schlagen, als er für einen kurzen Moment zögert, da ihm die Worte fehlen. Von diesem Punkt an lassen sich diese wunderbaren Momente über den ganzen Film verteilt immer wieder finden. Diese Augenblicke wären aber nicht einmal annähernd so bezaubernd, würden sie nicht von ihren beiden Hauptdarstellern verwirklicht werden, denen man anmerkt, dass sie nicht einfach nur ein auswendig gelerntes Drehbuch runterrattern, sondern wirklich anfangen, sich von ihrer Figur leiten zu lassen und in der Stimmung ihrer Gesprächsthemen aufzugehen. So werden allgegenwärtige Themen wie das Leben, der Tod, die Liebe, der Verlust oder die Rolle von Mann und Frau thematisiert, die immer mit einer gewissen Leichtigkeit gespielt werden, dass es weder langweilig, noch anstrengend wird.

Einer der größten Faktoren, warum man „Before Sunrise“ sehen sollte, ist die Zeit, in der er gedreht wurde und wie der Film genau dadurch aufzeigt, wie nichtig die heutige Technologie und soziale Netzwerke eigentlich sind. Unsere Figuren befinden sich in einer Situation, die von Moment zu Moment immer beklemmender wird. Umso mehr Zeit vergeht, desto mehr verlieben sie sich ineinander und desto näher rückt der Punkt zum scheinbar endgültigen Aus ihrer Bekanntschaft. Die Beiden sprechen sogar die Möglichkeit an, Telefonnummern auszutauschen, entscheiden sich aber schließlich doch, es sein zu lassen. Zum Einen, damit der Zauber dieser Nacht nicht verschwindet, zum Anderen weil Gelegenheitsanrufe letzten Endes nichts Langfristiges bedeuten können. Wäre eben dieses Szenario 20 Jahre später auf dieselbe Weise veröffentlicht worden, hätte die Geschichte nur ein Ende nehmen können. Früher oder später hätte man versucht sich im Internet zu finden, man hätte Kontakt aufgenommen und dieser Kontakt wäre genau so schnell verfallen, wie er entstanden ist.

Ich würde jedem empfehlen, sich Before Sunrise anzusehen. Er hat zwar ein sich an wenigen kurzen Stellen leicht ziehendes Tempo, ist aber trotzdem ein Bilderbuch Beispiel für wahre Figuren, wahre Intimität und wahre Liebe.

Before Sunrise

Veröffentlichung

30. März 1995

Regie

Richard Linklater

Laufzeit

97 Minuten

Besetzung

Ethan Hawke: Jesse
Julie Delpy: Celine

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